Zeit kaufen, wenn das Leben begrenzt ist Dr. Philipp Staab: Die Konsumkrise des digitalen Fortschritts Der Kapitalismus ist intelligent. Er findet immer wieder Auswege, oft dadurch, dass er auf frühere Epochen seiner Entwicklung zurückfällt. Eine Begabung fehlt ihm jedoch fast ganz: Übersicht und Selbststeuerung. Der Ökonom Dr. Philipp Stab vom Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) in Berlin hält die 4.0-Welt von Silicon Valley für einen nur vorübergehenden Ausweg und Fortschritt gegenüber der Dauerkrise. Die neuen Ökonomien und die Algorithmen der digitalen Welt zielen wenig auf die Verbesserung der Produktion. Ihr Ziel ist vielmehr die Mobilisierung der letzten Zeitquanten und Wunschlisten im Konsumbereich. Hier aber entsteht eine machtvolle Gegenwirkung: man müsste Afrika viel Industrie geben, wenn Afrika im großen Maßstab Industriegüter kaufen soll. Aller Austausch beruht letztlich auf Gegenseitigkeit und dabei lässt sich das kostbarste ökonomische Gut, die Lebenszeit, nicht absolut vermehren. Das setzt, so Philipp Staab, der Algorithmenwelt und dem Internet der Dinge Grenzen. "Der alte Pfusch ist tot, wir glauben an den neuen!" Herbert Fritsch: Manifest an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Die Schauspiel- und Zirkustruppe des Regisseurs Herbert Fritsch erobert mit dem Theaterabend "Pfusch" neue Dimensionen. Unter energischem Einsatz der Körper, der Stimmen, mit Chaos und Rhythmus und vor allem mit Improvisation und Artistik arbeiten Fritsch und seine Truppe entgegengesetzt zur überlieferten Stelzenkunst. Fritsch knüpft dabei an seine bisherige Linie an, beginnend mit der legendären Aufführung der BANDITEN von Jaques Offenbach in Bremen und der FRAU IM MOND von Paul Lincke an der Volksbühne Berlin. "Theater ohne Sinnzwang". Mit starkem emotionalen Erlebniswert. Der Schlachtruf und das Motto des Abends "Der alte Pfusch ist tot. Wir glauben an den neuen!" ist der Oberhausener Erklärung des Jungen Deutschen Films von 1962 entlehnt. Ein lebendiger Abend. Leider ein Abschied. Das Team wechselt an eine andere Berliner Bühne. Ich kann nicht streiken, wenn mein Arbeitsplatz zuhause ist Prof. Dr. Jürgen Kocka: Über den Wandel der menschlichen Arbeit Durch Globalisierung und Digitalisierung hat sich in Europa die klassische Struktur der Betriebsarbeit nachhaltig verändert. Prof. Dr. Kocka, der als Historiker zu der Bielefelder Schule gehört, welche an die legendäre französische Schule der Annalen anknüpft, stellt diesen Wandel in einen Zusammenhang, bei dem man erkennt, dass in unserer Welt neben der digitalen Neuerung alle früheren Formen der Arbeit (bis hin zur Sklaverei) nebeneinander koexistieren. Vor allem auf der subjektiven Seite der Menschen bleiben wesentliche Merkmale der Arbeit "unbezahlt" und "klassisch". Stark verändert haben sich Ort und Zeit, in der die Arbeit stattfindet. Bei der Entstehung der Industriearbeit war die örtliche Nähe in den Fabriken und die physische Übersicht über die Produktionsprozesse ein Charakteristikum, das sich auf das Selbstbewusstsein der Arbeiter, ihre Fähigkeit zur Kooperation und Solidarität auswirkte und für die "Gegenwehr der Arbeit" entscheidend war. Der Strukturwandel der Arbeit in Europa und in Industriezonen trifft gerade diese Seite der Arbeit im Kern. Begegnung mit Prof. Dr. Jürgen Kocka. Liebe in Russland ist nicht schwarz-weiß Barrie Kosky inszeniert EUGEN ONEGIN an der Komischen Oper Berlin Einen Dandy aus der Hauptstadt, Eugen Onegin, hat es aufs Land verschlagen. Er weckt in einer 17jhrigen Gutstochter, Tatjana, eine Leidenschaft. Man weiß nicht: kommt die Obsession aus ihrem Inneren oder aus den Romanen, in denen sie so eifrig liest. Ihre ältere Schwester, Olga, eine realistischere Natur, ist verlobt mit dem engsten Freund Onegins, Lenski. In der Verwirrung einer Sommernacht zündet es zwischen Onegin und dieser Olga. Der eifersüchtige Lenski beleidigt Onegin. Es kommt zum Duell. Onegin erschießt seinen besten Freund. 15 Jahre später trifft Onegin, inzwischen als Mensch verändert, erneut auf Tatjana. Sie ist mit dem Fürsten Grenin verheiratet und eine große Dame der Gesellschaft. Für einen kurzen Moment scheint es, als könnten sie zueinander finden. Tschaikowsky hat nach dem Versepos von Alexander Puschkin sieben lyrische Szenen zu diesem Sujet komponiert. Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper Berlin, zeigt in seiner Inszenierung mit entschiedenem Griff die Präzision und Schönheit von Tschaikowskys Oper, die das Schema der Oper hinter sich lässt. Es geht um eine Reise von Obsession zu Gleichgültigkeit. Das Nein kommt erst von Onegin und Jahre später von Tatjana. Dass dem Zuschauer eine solche Reise ins Nichts das Herz erwärmt, daran zeigt sich die Macht der Liebe. Der lange Atem Christoph Menke: "Eine gute Revolution ist nicht unter 800 Jahren zu haben!" Arabischer Frühling, die studentische Protestbewegung im Juni 1967 (parallel dazu die Rebellionen dazu in Paris und an den amerikanischen Universitäten), die russische Revolution von 1917, die Industrielle Revolution, die Große Französische Revolution - alle diese Umwälzungen, jede für sich, haben ihren eigenen Charakter. Ihre Anfangsversprechen hat keine gehalten. Revolutionen, sagt der Philosoph Christoph Menke, haben einen unglaublichen Zeitbedarf. Der Auszug Israels aus Ägypten, Prototyp eines radikalen Neuanfangs, dauerte 40 Jahre biblischer Zeit. Gute Revolutionen sind vermutlich nicht unter 800 Jahren zu haben. Christoph Menke hat den Lehrstuhl für PRAKTISCHE PHILOSOPHIE an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt inne. Er zählt zur 3. Generation der Frankfurter Kritischen Theorie. Diese philosophische Richtung, mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Jürgen Habermas, Oskar Negt in ihren Reihen, steht für die Abwehr gegen den Nationalsozialismus, übersetzt für heutige Zeiten für die Früherkennung der Gefahren des Rechtspopulismus. In dieser Theorie steht die Freiheit, die (wie es schon Immanuel Kant sagt) dem menschlichen Nervensystem und der Evolution der Menschen innewohnt, im Fokus. Das Wort Vernunft ("raison"), heißt es bei dem französischen Philosophen Jacques Derrida, lässt sich aus einem altfranzösischen Wort ableiten, das mit "sturmsichere Beladung eines Schiffes" zu übersetzen ist. FAUST von Charles Gounod Frank Castorf inszeniert an der Staatsoper Stuttgart Frank Castorf, Chef der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, inszeniert die Oper FAUST in Stuttgart auf verblüffende Weise. Diese Oper aus dem 19. Jahrhundert wird gründlich entrümpelt. Das Bühnenbild und die Kostüme: heutiges Paris im Zeitalter der Attentate. Faust, anfangs ein herunter gekommener, zweiflerischer alter Mann, wird durch seinen Pakt mit dem Teufel - wie es Goethe und Gounod vorschreiben - in seine Jugend zurückverwandelt. Er überfällt die junge Margarethe mit seinem Liebesverlangen und stößt sie ins Unglück. Margarethe ist aber niemand, der sich auf diese Weise umbringen lässt. In der Rolle der Margarethe die hinreißende Mandy Fredrich. Der legendäre Faustwalzer in einem ganz neuen Licht! Wenn er auf den Boulevards von Fallschirmjägern, Legionären und ihren lebensgierigen Geliebten getanzt wird. Text: "Wie der Wind den Staub aus der Ackerfurche weht, tanzen wir in den Himmel hinein". Überraschend auch die "Hexen" und die "Engel" am Ende des Stücks. Die U-Bahn-Station heißt Stalingrad, Reklamen von neuesten Horrorfilmen und von Coca-Cola. Die Bühnenhandlung wird in großformatigen Filmaufnahmen übertragen. Ein ungewöhnlicher Grad von Intimität. Exakt passend zu der filigranen Musik von Gounod. Mag Gounods Oper weniger modern sein als andere Faust-Opern wie die von Hector Berlioz und die von Ferruccio Busoni, so zeigt sie sich doch in dieser Regie und in der musikalischen Leitung von Marc Soustrot schlüssig und von enormem Schwung. Ein Opernerlebnis mit Ausnahmecharakter. Die Nase des Sokrates Prof. Dr. Luca Giuliani: "Schönheit hebt ihr hässliches Haupt" Es gibt zwei Skulpturen des Sokrates, die uns Heutigen sein Aussehen einprägen. Die Archäologen sprechen von dem Sokrates Typ A und Typ B. Der erste Typus wurde in Form einer Statue zu einem Zeitpunkt nach der Verurteilung zum Tode aufgestellt, als Sokrates in Athen etwa so beliebt war wie die Rote Armee Fraktion bei den Obrigkeiten der Bundesrepublik. Es ist eine Statue des Protestes. Auf sie beziehen sich zwei Stellen in den Dialogen des Plato und den Schriften des Xenophon, die das Aussehen des Sokrates beschreiben. Der Typ B, der später Allgemeingut wurde, ist von dem Typ A geprägt. Entgegengesetzt zu dem in der Antike dominierenden Idol, dass die Schönheit und Wahrheit der Gedanken sich in Schönheit des Körpers und ebenmäßigen Gesichtszügen ausdrückt, sind diese posthumen Bilder des Sokrates den Satyrn nachempfunden: Knubbelnase, Wulstlippen, eigentlich ein hässliches Gnomengesicht. Prof. Dr. Luca Giuliani, Archäologe und Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin deutet diese Züge als Abbild des Satyrs Marsyas. Dieses Musikgenie trat in Wettbewerb mit dem grausamen Gott Apoll: wer ist der Beste? Schiedsrichter waren die ungerechten Musen, Handlangerinnen des Apoll. Durch Schiedsspruch besiegt wurde dem Marsyas am lebendigen Leib die Haut abgezogen. Offenbar, sagt Luca Giuliani, haben die Anhänger des Sokrates provokativ dieses Abbild geschaffen. Als plastische Kritik an den 500 Richtern, deren Mehrheit ihren klugen Meister, den Herrscher der Dialoge, zu Tode brachte. Die Statue ist eine Regelverletzung aller klassischen Ideale aus Protest. Wir haben kein Bild davon, wie Sokrates wirklich aussah. Wir wissen nur in welche Form die engsten Jünger den verehrten Meister kleideten. Ein Stück lebendiger Archäologie. "Schönheit hebt ihr hässliches Haupt" ist ein Zitat aus den LICHTENBERG FIGUREN des New Yorker Dichters Ben Lerner. Nachricht von blinden Fischen Dr. Jörg Freyhof: "Was man alles von Fischen nicht weiß" Aus unterirdischen Quellen des Zagros-Gebirges im Irak (heute von Kurden autonom verwaltet und verteidigt) traten vor Kurzem blinde, unbekannte Fische hervor. Sowie sie ins Freie kamen, fielen die viele Tausend Jahre alten Geschöpfe - wehrlos - den Vögeln zum Opfer. Forscher retteten einige Exemplare der bis dahin unbekannten Spezies. Im Meer, in den Flüssen und in den Wassern unter der Erde existieren mehr Fische, mehr Unbekanntes, als wir meinen. Von den großen Wanderungen der Fische weiß man viel. Aber immer noch sind breite Teile dieses Geschehens voller Rätsel. Siegmund Freud schrieb seine Doktorarbeit über den sexuellen Drang der Aale, der diese Tiere aus den Flüssen über den Atlantik in die Karibik und in der nächsten Generation wieder zurück aus der Salzwüste zu den Süßwasserquellen treibt. Menschliche Installationen wie der Suez-Kanal eröffneten im 19. Jahrhundert den Fischen des Indischen Ozeans und des Roten Meers den Weg ins Mittelmeer. Dort besetzen sie fast alle Räume, die vormals die Fische der Antike besiedelten. Der Ichthyologe (Fischforscher) Dr. Jörg Freyhof über Unbekanntes aus dem Reich der Fische. |
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May 2018
Katgorien |